Betriebsanleitungen für Maschinen – ISO 20607 oder IEC/IEEE 82079-1?

Muss ich zur Erstellung von Betriebsanleitungen im Maschinenbau die ISO 20607:2019 anwenden, wenn es doch die IEC/IEEE 82079:2019 Edition 2 gibt?

Eigentlich liegt die Antwort dazu auf der Hand, nachdem man sich den Scope beider Normen angesehen hat. Oder?
So einfach ist die Sache dann doch nicht.

Ein kurzer Abriss zur IEC/IEEE 82079-1 Edition 2

Die IEC/IEEE 82079-1 ist eine Horizontalnorm und umfasst alle Arten von Produkten, einschließlich Maschinen. Die Norm ist obendrein ein seit vielen Jahren etablierter Standard, der in der Neuauflage umfangreich erweitert, optimiert und an den Stand der Technik und Wissenschaft angepasst wurde.

Die 82079 liefert neben allgemeinen Anforderungen an die Erstellung von Nutzungsinformationen auch tiefergehende Anforderungen an das Dokumentations-, Prozess- und Qualitätsmanagement. Für die Umsetzung der normativen Forderungen braucht es bereits Erfahrung, weshalb die Norm auch unterschiedliche Kompetenzniveaus – Level 1 bis 3 – ausweist (Kapitel 10.3). Ein wichtiger Schritt hin zur weiteren Professionalisierung Technischer Redakteure und Informationsmanager.

In der Norm wurde nun endlich eine Forderung der Branche nach Klarstellung der Kompetenzen umgesetzt. Das hilft künftig auch bei der Einstufung von Personen z. B. bei neuen oder bestehenden Arbeitsverhältnissen oder bei Ausschreibungen. Somit sollte es ja mit der Anwendung der Norm getan sein und es muss nicht ein weiterer Standard berücksichtigt werden. Oder?

Betriebsanleitungen für Maschinen

Für Hersteller von Maschinen (Anm.: das umfasst auch Anlagen, also eine Gesamtheit von Maschinen und unvollständige Maschinen) trifft das aber nur bedingt zu. Die Mutternorm IEC/IEEE 82079 greift sehr weit und geht deutlich in die Tiefe. Die ISO 20607 hingegen beruft sich auf die sicherheitsrelevanten Inhalte und spricht im gesamten Standard auch nur von Betriebsanleitungen. Die IEC/IEEE 82079-1 hingegen regelt das Erstellen von Nutzungsinformationen, wozu neben der Betriebsanleitung auch Schulungsinformationen, Ersatzteilinformationen, Montageinformationen, Kurzanleitungen usw. gehören.

Als „Kochrezept“ aufgesetzt (Anm.: bewusst oder unbewusst) hilft die ISO 20607 auch unerfahrenen Personen bei der Erstellung von Betriebsanleitungen. Sie dient also quasi für die Erstellung von Betriebsanleitungen „auf die Schnelle“.

Hierin erkennt man einen deutlichen Unterschied zur 82079-1, die, wie bereits dargestellt, einschlägige Fachkompetenz fordert. Das Kochrezept allein würde aus jetziger Sicht nicht Grund genug sein, die 20607 als Parallelnorm neben der 82079 anzuwenden. Schließlich liefert Zweitere mehr Anforderungen an die Erstellung von Nutzungsinformationen, was zur Argumentation ausreichen würde und auch nachvollziehbar wäre.

Beleuchten wir das Thema jedoch aus rechtlicher Sicht, ist die Sache jedoch nicht so schnell in trockenen Tüchern.

Aktuell sind beide Normen noch zu keiner EU-Richtlinie harmonisiert, sodass bei der Anwendung einer oder beider Normen keine Konformitätsvermutung ausgelöst wird.

Das wird sich aber ändern, denn die IEC/IEEE 82079 Edition 2 soll zur europäischen Produktsicherheitsrichtlinie (2001/95/EG) und die ISO 20607 zur Maschinenrichtlinie (2006/42/EG) harmonisiert werden. Ist das soweit, werden die Normen im OJEU gelistet und müssen in künftigen Konformitäts- oder Einbauerklärungen unter den harmonisierten Normen genannt werden. Anm.: Vorausgesetzt, sie wurde auch tatsächlich beachtet.


Hier steht man nun am Scheideweg. Geht man in eine Richtung, könnte man als Maschinenhersteller auf die Anwendung der 20607 verzichten, diese nicht in den Erklärungen nennen und stattdessen die 82079 in der Rubrik weiter angewandte Normen anführen. Anm.: Sofern man auch diese umgesetzt hat.


Dann stellt sich jedoch rasch die Frage nach dem Warum. Im Zweifelsfall muss klargestellt werden, warum man sich für oder gegen eine Norm entschieden hat und diese Entscheidung muss entsprechend belegt werden.

Geht man jedoch den anderen Weg, wendet man die 20607 an und nennt diese auf den Erklärungen. Ergänzend kann – wenn angewandt – auch die 82079 angeführt werden.


Jedoch sei hier Vorsicht geboten, denn die 82079 verlangt einen gut organisierten Informationserstellungsprozess, den ein Hersteller erst einmal in seinem Unternehmen aufbauen muss (wenn nicht bereits vorhanden). Ebenso benötigt es die erforderlichen personellen Kompetenzen. Hier reicht es nicht aus, präventiv die Horizontalnorm zu nennen und deren Anwendung zu erklären.


Somit wird die Antwort zur Frage nach der Anwendung der 20607 bereits in den Mund gelegt.
Sind Unternehmen (Anm.: gilt für Maschinenhersteller) noch nicht in der Lage die normativen und tiefgreifenden Anforderungen der IEC/IEEE 82079-1 Edition 2 zu erfüllen, macht es Sinn, im ersten Schritt die zur Maschinenrichtlinie künftig harmonisierte ISO 20607 anzuwenden. Das betrifft vor allem jene Unternehmen, die bis dato keine ausgebildeten Technischen Redakteure im Team haben. Als Alternative kann man sich hier auch externes Know-how über Dienstleister an Bord holen.


Ein Unternehmen sollte, um künftig auch in diesem Bereich wettbewerbsfähig zu bleiben, bestrebt sein, die in der 82079-1 geforderten Prozesse und Managementsysteme aufzubauen. Technische Dokumentation stellt einen nicht unerheblichen Anteil an vergangenen, laufenden und künftigen Produkthaftungsfällen dar und gewinnt auch im Auge des Rechts immer mehr an Bedeutung. Instruktionsfehler werden immer häufiger zum Streitthema und auch, ob mit Hilfe der Anleitungen auch die Sicherheitserwartung der Benutzer erfüllt wurde. Das ist ein Thema, wofür es Professionisten braucht. Und diese gibt es auch!

Fazit

Die ISO 20607 erleichtert den Einstieg in die Welt der technischen Dokumentation, wenngleich diese neue Norm keine weltmeisterliche Leistung darstellt. Die IEC/IEEE 82079-1 Edition 2 ist eine Fachnorm, die tief in Prozesse zur Erstellung und Management eingeht. Daher wenden Profis in der technischen Kommunikation vorrangig die IEC/IEEE 82079-1 an und führen einen Abgleich mit der 20607 durch. Gegenseitige Ergänzungen und Überlappungen müssen erkannt und korrekt umgesetzt werden. Maschinenbauunternehmen müssen lernen, mit diesen zwei Normen parallel zu arbeiten.

Weiterführende Informationen
  • Fachartikel „Die Zwei – Maschinen dokumentieren“, erschienen in der Fachzeitschrift ‚technische kommunikation‘, Ausgabe 4/2019, Hrsg. tcworld (Mehr erfahren)
  • Beiträge zur Edition 2 der IEC/IEEE 82079-1 und ISO 20607 (Mehr erfahren)
  • tekom Newsportal (Mehr erfahren)
  • TIPP: tekom akkreditierte Ausbildung – ‚Masterlehrgang Technische Dokumentation‘; FH JOANNEUM Graz; (Mehr erfahren)

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